Buch - Dagmar Bechtloff: "MADAGASKAR und die Missionare"

Was es an Weisheit gibt

Dagmar Bechtloff zeigt, wer auf Madagaskar das Sagen hatte

Süddeutsche Zeitung 30.10.2002

Die Große Insel vor der Südostküste Afrikas ist das einzige wirklich afro-asiatische Land unserer Erde. Unter Madagassen ist es üblich, genau zu wissen, ob ihre Vorfahren aus Afrika eingewandert sind oder aus Indonesien, letztere, die vor allem im Zentrum der Insel auf dem Hochland wohnen, neigen dazu, sich für etwas besseres zu halten. Gerade haben sich die militärischen Gefolgsleute zweier Präsidentschafts-Kandidaten, die im Dezember 2001 Kopf an Kopf rannten, einen kleinen Bürgerkrieg geliefert, nachdem das Verfassungsgericht im April 2002 den Bürgermeister der Hauptstadt Antananarivo, der seine Stimmen vor allem auf dem Hochland gesammelt hatte, zum Sieger über den bisherigen Staatschef ausgerufen hatte.

Im 19. Jahrhundert herrschten in Antananarivo die Könige des Merina- Volkes, die ihren Ehrgeiz darein setzten, ganz Madagaskar zu erobern – was ihnen weitgehend gelang. Diese Entwicklung passt genau in die Geschichte Afrikas zu jener Zeit: einen Drall zur geographischen Erweiterung und militärischen Intensivierung politischer Herrschaft finden wir bei den Zulu in Südafrika ebenso wie im heutigen Tansania, Uganda, Äthiopien oder im Osten des Kongobeckens. Eines Tages werden wir vielleicht wissen, ob das eine Fernwirkung der industriellen Revolution Europas war, vielleicht das Ergebnis des Verzichts der Briten auf den Sklavenhandel 1807.

Nachdem bald alle Europäer nur noch das treiben wollten, was sie „legitimen Handel“ nannten, nämlich Rohstoffe zu kaufen, die Afrikaner produzieren sollten, sahen viele afrikanische Herrscher sich zur Anpassung an die neue Entwicklung herausgefordert. Während die Herrscher im Sudan auf Fundamente des Islam zurückgriffen, der ihre Gesellschaft von Europa abschirmte, ließen sich die Merina Madagaskars vorsichtig auf Anpassung an das europäische Modell ein.

Königin Ranavalona I. schlug genau den gleichen Ton an wie die chinesischen Reformer des Jahres 1898, als sie im Februar 1835 in einer Ansprache vor europäischen Gästen erklärte: „Wenn es etwas an Weisheit oder Güte zur Verbesserung meines Landes gibt, werde ich es machen; aber von den Sitten meiner Vorfahren kann ich nicht lassen.“

Zu den Import-Angeboten des Abendlandes gehörte die christliche Religion. Es ist nun keineswegs so, dass die christlichen Kirchen zu allen Zeiten mit den gleichen Methoden und Zielen die Bekehrung der Ungläubigen betrieben hätten. Dagmar Bechtloff stellt uns zwei Perioden vor: die vom Jesuitenorden getragene Mission des katholischen Portugal im 17. Jahrhundert und die vorwiegend von England ausgehenden, eher protestantischen Aktivitäten im 19. Jahrhundert.

Rivalen im Indischen Ozean

Für Portugal (und für Spanien) setzte christliche Mission in neu „entdeckten“ Ländern ohne größeren Bruch die Auseinandersetzung mit dem Islam auf der iberischen Halbinsel vor 1492 fort – die „Rückeroberung“ (Reconquista) – und verknüpfte sich dadurch mit politisch-militärischer Expansion. Die Jesuiten waren gleichzeitig die geistliche Speerspitze der katholischen Kirche bei ihrer Gegenreformation. Die reformierten Seemächte Holland und England wiederum waren Portugals und Spaniens (auf Dauer siegreiche) Rivalen im Indischen Ozean.

Kein Wunder also, dass für Dagmar Bechtloff die schwachen und erfolglosen Missionsversuche der Jesuiten ab 1616 auf Madagaskar, die nur einige Küstenvölker erreichten, unter dem Stichwort Policía standen. Allerdings entdeckt sie schon in der damaligen Sozial-Theologie, die als Vorläufer des klassischen Völkerrechts den Eroberungskrieg gegen „barbarische Heiden“ rechtfertigte, Ansätze zum Begriff der Zivilisation, der dann im 19. Jahrhundert (und bei manchen Intellektuellen nicht nur in USA bis heute – siehe „Humanitäre Intervention“ und Irak-Debatte) das gute Gewissen des weißen Mannes bei der Errichtung seiner Imperien begründete. DIE BARBAREN]

Die London Missionary Society (LMS), die König Radama I. 1820 nach Madagaskar einlud, „vorausgesetzt es handelt sich um tüchtige Handwerker, die aus meinen Untertanen Arbeiter und gute Christen machen“, war von den Ideen der Kongregationalisten beflügelt. Diese Strömung innerhalb der Anglikanischen Kirche betonte die Freiheit und Selbständigkeit jeder Gemeinde (auch in den Missionsländern), predigte daheim in England den Armen und war den nach den napoleonischen Kriegen anstehenden sozialen und politischen Reformen zugeneigt. Die Bindung an Interessen des Britischen Empire war also jetzt und hier lockerer als einst bei den portugiesischen Jesuiten. Die Madagassen bewiesen ein feines Gespür für die Umwälzungen, die der Kontakt mit den Missionaren ihrer gewohnten Lebensweise zumutete. Im 17. Jahrhundert entmutigten sie die Jesuiten vor allem durch die Weigerung, ihr freizügiges Liebesleben auf die katholische Einehe zu beschränken.

Aufrüstungspläne für die Insel

Königin Ranavalona I. brach 1835 mit der Öffnungspolitik ihres Vorgängers Radama; um die Merina-Macht zu konsolidieren, verfolgte sie jede Opposition. Die Zugehörigkeit zur christlichen Religion wurde hierbei seitens der Regierung als sicheres Indiz für staatsgefährdende Tätigkeit angesehen und mit dem Tod bestraft. Unbekümmert spannte die Königin jedoch weiterhin die Gerber, Schmiede, Weber, Tischler und Schreiner der LMS in ihre Modernisierungs-Anstrengung ein, soweit diese nicht aus Gewissensgründen die Insel verließen. Sie balancierte den englischen Einfluss 1829 durch Wirtschaftsverträge mit Franzosen aus und zielte dabei auf Errichtung einer regelrechten Rüstungsindustrie. Allerdings erwiesen sich die Rahmenbedingungen Madagaskars (Zwangsrekrutierung von Arbeitskräften auf königlichen Befehl ohne Bezahlung) als unzureichend für eine erfolgreiche Nachahmung der industriellen Revolution Europas.

Als nach dem Tod Ranavalonas I. ihre Nachfolgerin gleichen Namens 1868 das Steuer herumwarf, sich samt ihrem Premierminister und Ehemann nach LMS- Ritus taufen ließ und sofort 16000 Untertanen zur gleichen Geste bewog, worauf ein Gesetzbuch mit Elementen europäischen Rechts eingeführt, die Verwaltung gestrafft und die schwarzen Sklaven befreit wurden, war es für einen solchen „Befreiungsschlag“ zur Abwehr der jetzt kräftig anziehenden Kolonisierungslust Frankreichs zu spät. 1885 zwang Paris im Kielwasser der Berliner Afrikakonferenz, bei der die Großmächte bekanntlich übereinkamen, sich bei ihren Erwerbungen nicht in die Haare zu geraten, Madagaskar ein Protektorat auf. 1896 schickte es die Merina-Monarchie endgültig auf Rente.

Wir haben es mit einem weltpolitischen Dreieck zu tun. In einem Winkel steht der Selbstbehauptungswille eines reichlich brutalen, aber grundsätzlich lernfähigen und in seinen Spitzen partiell lernwilligen afro-asiatischen Regimes. Im zweiten Winkel wartet Westeuropas Ungeist des Rassismus auf die Stunde seiner vollen Entfaltung zu einem auf industrielle Potenz gestützten Kolonial-Imperialismus – zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch zurückgehalten durch die Erwartung, Freihandel allein werde das Geschäft besorgen, so dass man sich mit einem kostengünstigen informal empire begnügen könne (die Autorin verwechselt gelegentlich diesen Schlüsselbegriff mit dem später praktizierten britischen Kolonialrezept einer „indirekten Herrschaft“). Im letzten Winkel des Dreiecks pflegen die christlichen Kirchen ihre Mission – im jeweils opportunen Schulterschluss mit weltlichen Triebkräften ihrer Wirtsvölker.

Dagmar Bechtloff will am Beispiel Madagaskars dieses Dreieck von allen Seiten her ausleuchten und ihm durch den Rückgriff auf das 17. Jahrhundert Relief verschaffen. Wer das Buch aufblättert, wird schnell gefesselt: Es wird schwungvoll, präzise und faktenreich erzählt. Ich habe über Wiederholung vieler Einzelheiten anfangs gestutzt, sie aber mehr und mehr begrüßt. Dagmar Bechtloff weist darauf hin, dass jedes Ereignis beim Aufeinandertreffen unterschiedlicher Madagassen mit unterschiedlichen Europäern zu unterschiedlichen Zeiten in mehrfachen Zusammenhängen im oben angedeuteten Rahmen steht und verstanden werden will.

FRANZ ANSPRENGER

DAGMAR BECHTLOFF: Madagaskar und die Missionare. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2002. 258 S., 45 Euro.